Russland hat einen neuen, alten Präsidenten und die Wirtschaft leidet an denselben alten Krankheiten. Eine Balanced Scorecard schärft den Blick für die Schwächen des Systems Putin.
Von Armin Häberle Russlands Führung steht auch nach den mehr oder weniger wie geplant zu Ende gegangenen Präsidentschaftswahlen unter Druck. In der Bevölkerung rumort es, und die wirtschaftlichen Aussichten sind prekär. Finanzvorständen steht in ähnlichen Fällen eine Balanced Scorecard zur Verfügung, um die Performance ihres Unternehmens bei Finanzen, Prozessen, Kundenbeziehungen sowie beim Mitarbeiter- und Wachstumspotential zu analysieren. Auch dem Kreml- Management könnte ein ähnlicher Ansatz helfen.
Auf den ersten Blick ist die Finanzsituation Russlands bestens. Die öffentliche Schuldenlast beträgt gerade einmal 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), nach gut 60 Prozent im Jahr 2000. Ein bemerkenswerter Rückgang. Doch parallel dazu sind die Schulden des privaten Sektors von 10 auf 35 Prozent des BIP angestiegen. Der Kreml große Teile seiner Schuldenlast lediglich auf private Unternehmen abgewälzt, die weiterhin staatlich kontrolliert werden: Gazprom, Rosneft, die VTB Bank und andere. Deutsche Bank Research spricht von "quasistaatlichen Schulden" und hat ausgerechnet, dass 12 Prozent der russischen Unternehmen gut 80 Prozent dieser Schulden von rund 140 Milliarden Euro ausmachen.
Der untergegangene amerikanische Enron-Konzern ist ein Beispiel dafür, wie in Tochtergesellschaften versteckte Schulden ein scheinbar gesundes Unternehmen zu Fall bringen können. Russland selbst steht nicht kurz vor dem erneuten Staatsbankrott. Aber schon bis 2020 dürfte der offizielle Schuldenstand wieder 32 Prozent des BIP erreichen. Einschließlich der quasistaatlichen Schulden kann der Wert leicht auf über 40 Prozent steigen - ein Niveau, das in Emerging Markets mit einem deutlich erhöhten Risiko für eine Schuldenkrise assoziiert wird.
Die Scorecard verschlechtert sich weiter, wenn man auch die laufenden Ausgaben und Einnahmen betrachtet. Die russische Regierung hängt zu über 50 Prozent an einer einzigen Einnahmequelle: Rohstoffexporte, vor allem Öl und Gas. Kein Finanzchef der Welt würde sich mit solch einem Klumpenrisiko wohlfühlen. Schlimmer noch: Die Verwundbarkeit nimmt nicht ab, sondern zu. Im Jahr 2000 genügte ein Ölpreis von 20 Dollar pro Barrel, um den russischen Staatshaushalt auszugleichen, 2011 war dafür schon ein Ölpreis von 115 Dollar nötig. Das aufgeblähte Budget kommt zum Teil daher, dass die Regierung gewaltige Summen ausgibt, um sich politische Unterstützung zu erkaufen.
Auch hierfür gibt es Parallelen in der Unternehmenswelt. Versucht ein börsengelistetes Unternehmen seine Shareholder angesichts schwacher Zahlen zu besänftigen, zahlt es mehr Dividende - das betriebswirtschaftliche Äquivalent hoher Staatsausgaben. Nokia beispielsweise hielt seine Dividende zwischen 2006 und 2010 bei über 0,40 Euro pro Aktie, obwohl der Gewinn pro Aktie in dieser Zeit von 1 Euro auf 0,25 Euro sank. Selbst das aber konnte den Fall der Aktie nicht stoppen - von über 27 auf knapp 4 Euro in vier Jahren.
Die russische Führung merkt ebenfalls, dass Dividendenzahlungen allein nicht reichen. Seit Anfang des Jahres wurden die Proteste, die sich gegen die internen Prozesse im Land richteten, immer lauter. Im System Putin sind dessen Popularitätswerte ein guter Anhaltspunkt für die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Lage der Nation. Diese Popularität mag nicht so schnell fallen wie Nokias Aktienkurs. Das liegt vor allem daran, dass der Markt für politische Zustimmung in Russland nicht so liquide und transparent ist wie der einer frei handelbaren Aktie. Die jüngsten Proteste zeigen aber, dass die internen Prozesse in Russland überholt werden müssen, will das Management die Belegschaft nicht komplett gegen sich aufbringen.
Mangelhafte Kundenbetreuung
Eine Balanced Scorecard blickt aber auch nach außen, auf die Kundenbeziehungen. Auch hier ist Russlands Bilanz mager. Streitigkeiten mit der Ukraine, Polen und Weißrussland gehören zur Tagesordnung. Und weiter im Westen, wo Russlands wichtigste Kunden sitzen, verschieben sich die Gewichte in Richtung erneuerbarer Energien und anderer Energieträger.
"Die Ausbeutung von Schiefergasvorkommen in großem Stil könnte für Russland dasselbe bedeuten, was das iPhone für Nokia bedeutet hat - nichts Gutes", sagt Chris Weafer, Chief Strategist bei der russischen Investmentbank Troika Dialog. So lange Kunden von einem Zulieferer abhängig sind, muss letzterer sich um Kundenbetreuung keine Gedanken machen. Sobald die Kunden ihren Einkauf aber diversifizieren, sollte man sich pfleglicher um sie kümmern. Die russische Führung muss hier noch viel lernen.
Doch der Wille zur Veränderung ist da. "Dass Russland endlich der WTO beigetreten ist, ist ungefähr so, wie wenn ein Unternehmen McKinsey anheuert", sagt Weafer. Die Mitgliedschaft wird die russische Führung zwingen, ihre Wirtschaft dem internationalen Wettbewerb zu öffnen und könnte damit auch endlich die längst erhofften und lange angekündigten Reformen der internen Prozesse und des gesamten Geschäftsmodells auslösen.
Dafür wäre keine Neuerfindung Russlands notwendig; eine Rückbesinnung auf die eigenen Stärken würde genügen. "Russland sollte sich zunächst einmal um das kümmern, was es gut kann, aber über die Jahre hat schleifen lassen: Agrarwirtschaft, Industriegüter und so weiter", meint Weafer.
Wichtig ist aber auch, über den Aufbau von Humankapital die Wachstumsaussichten langfristig zu verbessern. Denn Russland hat mehr zu bieten, als der erste Blick vermuten ließe. "Das talentierte Stammpersonal ist völlig ungenutzt", sagt Anders Aslund vom Peterson Institute for International Economics in Washington. "Außerdem ist Russland das größte Einwanderungsland der Welt nach den USA." Es gebe immenses Potential sowohl bei der Versorgung mit Arbeitskräften als auch beim privaten Konsum.
In der Tat gelten russische Einzelhändler und Mobilfunkanbieter schon heute als international voll wettbewerbsfähig. Doch trotz einer kurzfristig vielversprechenden Konsumentenbasis sehen die demographischen Aussichten langfristig schlecht aus, vor allem im Vergleich zu den anderen BRIC-Staaten. "Trotz Einwanderung haben wir den Höhepunkt der erwerbsfähigen Bevölkerung 2005 überschritten", sagt Ivan Tchakarov von der Investmentbank Renaissance Capital. "In China ist das 2025 der Fall, in Brasilien 2035 und in Indien erst 2045. Die alternde Bevölkerung ist eine schwere Belastung für das Land, vor allem weil das Rentensystem völlig ineffizient ist." So schätzte Alexei Kudrin, der frühere Finanzminister, das Defizit in der Rentenkasse 2011 bereits auf 34 Milliarden Dollar.
Magere Investitionsquote
Der beste Weg, die Wachstumsaussichten unabhängig von der Bevölkerungszahl zu verbessern, sind Investitionen. Aber Russlands Investitionsquote liegt bei gerade einmal 20 Prozent des BIP. Das ist zwar mehr als die USA, die auf 18 Prozent kommen. "Aber knapp 20 Prozent sind für einen - betriebswirtschaftlich ausgedrückt - großen Mischkonzern wie die USA völlig in Ordnung, jedoch viel zu wenig für ein Start-up- Unternehmen wie Russland", sagt Tchakarov. Ein Grund, warum Amazon in Russland beispielsweise keinen Erfolg hat, ist die katastrophale Infrastruktur. Das Straßennetz wurde seit 1997 nicht erweitert, obwohl sich die Zahl der Autos seither verdreifacht hat.
Dabei kann Russland selbst in modernen Branchen mithalten. Es ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen heimische IT-Firmen oft besser sind als ihre US-amerikanischen Wettbewerber. VKontakte ist beliebter als Facebook, die Suchmaschine Yandex erfolgreicher als Google. Die IT-Sicherheitsfirma Kaspersky ist von Weltrang. Russland könnte sich also locker selbst aus dem Rohstoffsumpf ziehen. Bislang aber schafft das Land es nicht, dieses Potential zu heben. Das zeigen Patentanmeldungen und Lizenzgebühren. Laut Weltbank verdiente Russland 2010 gut 625 Millionen Dollar mit Lizenzgebühren. Ungarn nahm im selben Jahr rund 1 Milliarde Dollar ein; Irland, 2002 noch etwa gleichauf mit Russland, gar 2,2 Milliarden. Der unbestrittene Weltmarktführer USA zeigt, welches Potential in Lizenzgebühren steckt: 2010 flossen über 100 Milliarden Dollar auf diese Weise ins Land - etwa die gleiche Summe, die Russlands Regierung im selben Jahr aus seinen Öl- und Gasgeschäften einnahm. Das vielgepriesene Skolkovo-Forschungszentrum ist eines von verschiedenen staatlichen Initiativen, um Russland zu einem der globalen Technologieführer zu machen. Wichtiger ist es aber, das Geschäftsmodell des Landes so umzubauen, dass es jenseits staatlichen Einflusses mehr Raum für mittelständische Unternehmen und Start-ups lässt.
Russlands Scorecard ist also alles andere als ausbalanciert. Die Finanzen sehen vordergründig gut aus, sind aber geschönt. Die Prozesse müssen reformiert werden, um mehr Partizipation von unten und mehr Rechenschaft von oben zu erreichen. Das Kundenmanagement stammt aus einer Zeit, als Russland in vielen Märkten noch Monopolist war. Und das HR-Management muss neu aufgestellt werden, um Wachstumspotentiale jenseits der Rohstoffreserven zu heben. Wie bei jeder Balanced Scorecard sind fast alle dieser Aspekte eng miteinander verknüpft. Das macht die Formulierung einer kohärenten Strategie nicht einfacher, aber umso dringlicher.